VI ZR 198/09
Der Bundesgerichtshof hat in seinem am 06.07.2010 verkündeten Urteil,
Aktenzeichen VI ZR 198/09 zur Aufklärungspflicht entschieden:
Leitsätze:
a) Der Umstand, dass bei der konkreten Behandlung (im vorliegenden Fall: PRT) über eine Querschnittlähmung noch nicht berichtet worden ist, reicht nicht aus, dieses Risiko als lediglich theoretisches Risiko einzustufen und eine Aufklärungspflicht zu verneinen.
b) Liegen der Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen medizinische Fragen zugrunde, muss der Richter mangels eigener Fachkenntnisse Unklarheiten und Zweifel bei den Bekundungen des Sachverständigen durch eine gezielte Befragung klären.
Nachfolgend werden diejenigen Ausführungen von zentraler Wichtigkeit dargestellt, Kürzungen im Text durch Goebel Schaefer Rechtsanwälte:
Prinzipiell ist der Patient so aufzuklären, dass er „im Großen und Ganzen“ weiß, worin er einwilligt. Dazu muss er über die Art des Eingriffs und seine nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegen-den Risiken informiert werden, soweit diese sich für einen medizinischen Laien aus der Art des Eingriffs nicht ohnehin ergeben und für seine Entschließung von Bedeutung sein können. Dem Patienten muss eine allgemeine Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermittelt werden, ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern.
Die Notwendigkeit der Aufklärung hängt bei einem Risiko, welches spezifisch mit der Therapie verbunden ist, indessen nicht von der Häufigkeit ab, mit der sich das Risiko verwirklicht oder zu einer Komplikation führt. Entscheidend ist vielmehr die Bedeutung, die das Risiko für die Entschließung des Patienten haben kann. Bei einer möglichen besonders schweren Belastung für seine Lebensführung ist deshalb die Information über ein Risiko für die Einwilligung des Patienten auch dann von Bedeutung, wenn sich das Risiko sehr selten verwirklicht.
Die Haftung aus verletzter Aufklärungspflicht setzt voraus, dass das Risiko nach medizinischer Erfahrung (zum Zeitpunkt der Aufklärung) bekannt ist bzw. den behandelnden Ärzten bekannt sein muss. Ist ein Risiko im Zeitpunkt der Behandlung noch nicht bekannt, besteht keine Aufklärungspflicht. Ist es dem behandelnden Arzt nicht bekannt und muss es ihm auch nicht bekannt sein, etwa weil es nur in anderen Spezialgebieten der medizinischen Wissenschaft diskutiert wird, entfällt eine Haftung des Arztes mangels Verschuldens.
Zudem sind in aller Regel rein theoretisch bleibende Erörterungen über Risiken, die bei anderer Behandlungsstrategie bekannt sind, für die Entscheidungsfindung des Patienten ebenso wenig von Bedeutung wie allgemeine Überlegungen dazu, dass der Eintritt bislang unbekannter Komplikationen in der Medizin wohl nicht ganz auszuschließen ist
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In dem vorliegenden Fall hat der Sachverständige darauf abgestellt, dass bleibende Lähmungen bis hin zu Querschnittlähmungen nach wirbelsäulennahen Injektionen allgemein nicht auszuschließen seien, auch wenn der Entstehungsmechanismus unterschiedliche Ursachen haben kann. Er hat bei seiner mündlichen Anhörung ausdrücklich erklärt, er halte eine Aufklärung über das Risiko einer Querschnittlähmung auch dann für erforderlich, wenn noch keine Vorfälle einer Querschnittlähmung bei der Durchführung von PRT bekannt geworden seien. Entscheidend sei dabei, dass die Wirbelsäule das zentrale Nervensystem enthalte und unbeabsichtigt Blutungen entstehen könnten. Wenn dies geschehe, habe man die Querschnittlähmung. Dies wisse man von anderen wirbelsäulennahen Eingriffen, wie z.B. der Epiduralinfiltration. Die durch die CT-Kontrolle mögliche, äußerst genaue Positionierung der Nadel schließe die bekannten Komplikationen anderer wirbelsäulennaher Injektionstechniken nicht aus….Der Gerichtssachverständige hat mithin seine Auffassung aus den allgemeinen anatomischen Gegebenheiten bei wirbelsäulennahen Injektionen abgeleitet und ist trotz Hinterfragung seiner Auffassung bei seiner Einschätzung geblieben.
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Im vorliegenden Fall hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass eine Verpflichtung zur Aufklärung des Patienten auch bei einem unter Umständen – zum Zeitpunkt Aufklärung – nur für theoretisch möglich gehaltenen Risiko besteht. Vorliegend nämlich auch dann,
wenn gemäß den Ausführungen des Sachverständigen bereits aufgrund der anatomischen Verhältnisse der Wirbelsäule davon auszugehen ist, dass bei einer PRT in gleicher Weise die Gefahr einer Querschnittlähmung besteht wie bei anderen Behandlungen, bei denen eine solche Gefahr schon vor dem Jahr 2001 bekannt war. Bei der im Streitfall gegebenen besonders schweren Belastung für die Lebensführung des Patienten bei Verwirklichung des Risikos kommt es für das Informationsbedürfnis des Patienten weder darauf an, aus welchen Gründen eine Querschnittlähmung eintreten kann und ob dies im Einzelnen geklärt ist, noch darauf, ob im Einzelfall das Risiko einer tiefen oder (sogar noch schwerer wiegenden) hier vorliegenden hohen Querschnittlähmung besteht. Entscheidend ist für ihn, dass er vor der Entscheidung für eine Behandlung darüber informiert ist, dass ein solches Risiko aufgrund der bestehenden anatomischen Verhältnisse besteht, und er dies in seine Abwägung einbeziehen kann. Sollte sich eine solche Gefahr bei einer PRT schon aus den anatomischen Verhältnissen ergeben, hätte schon zum Zeitpunkt der Behandlung ein spezifisches – nicht nur theoretisches – Risiko der konkreten Behandlung vorgelegen, über das grundsätzlich auch ohne vorher bekannt gewordene Schadensfälle aufzuklären war. Eine Haftung des Beklagten könnte dann allenfalls entfallen, wenn das Gericht – nach sachverständiger Beratung – zu dem Ergebnis käme, dass eine entsprechende Kenntnis von einem niedergelassenen Orthopäden zum damaligen Zeitpunkt nicht verlangt werden konnte.